Das Flüstern der Steine

– von mir ein paar ›leise‹ Töne zum 275-jährigen Jubiläum der deutschen Freimaurerei, das an diesem Wochenende in Hamburg ungewöhnlich ›laut‹ gefeiert wird

Die Säule der Stärke und die Säule der Schönheit stritten darum, wer wohl die wichtigere wäre.
»Ich bin so stark«, sprach die eine, »dass ich das Dach, das Dich vor Wind und Wetter schützt, noch in hundert Jahren tragen werde.«
»Pah!«, entgegnete die andere. »Ich bin so schön, dass die Menschen auch noch vor mir niederknien, wenn Deine Stärke schwindet. Wie aber wird’s wohl mit der da drüben sein?«
»Die?«, antwortete die Stärke und überlegte einen Moment, »Die trägt nur eine Kerze. Und schön ist sie auch nicht. Die werden die Menschen sicherlich als erstes vergessen.«
Doch die Säule der Weisheit lächelte, während die Jahrhunderte vergingen.

Zunächst schien es, als solle die Schönheit recht behalten: Denn während die Kräfte der Stärke allmählich schwanden, ließen Priester die Schönheit vergolden, setzten ihr eine prächtige Statue auf und Viele kamen, um davor niederzuknien. Doch das sprach sich herum und irgendwann kamen auch Menschen, der Schönheit die Schönheit zu rauben. Daraufhin blieben die Pilger aus und irgendwann gingen auch die Priester.
Als schließlich die Stärke über die Jahrhunderte alle Kraft verlassen hatte und das Dach einstürzte, da nahm der Regen der Schönheit auch den letzten Rest ihres Glanzes und der Wind kam und löschte auch die Kerze auf der Säule der Weisheit aus, die ein alter Mann noch am Brennen gehalten hatte. Doch die Weisheit lächelte, während Stärke und Schönheit ihr unendliches Leid beklagten.

Eines Nachts kam ein Baumeister, arm an Jahren, doch reich an Herz und Verstand und mit offenen Ohren für das Flüstern der Steine.
»Ich will diese Stätte wieder in ihrem ursprünglichen Glanz erstrahlen lassen, keine Zeit vergeuden und gleich zu Werke gehen – doch welcher Säule soll ich mich wohl zuerst widmen?«, sprach er gedankenverloren zu sich.

Und während sich ihm daraufhin die Schönheit in der Finsternis kaum merklich entgegen reckte und die Stärke ein wenig vor ihm aufplusterte, da hauchte die Weisheit dem vorbeigehenden Mann etwas zu.

»Ja! So mache ich’s!« rief der Baumeister, denn ihm schien, als habe er einen Geistesblitz gehabt. »Erst nehme ich die starke Säule und dann diese dort, die einmal sehr schön gewesen sein muss.«

– sprach’s, zündete die verloschene Kerze auf der Säule der Weisheit an und ging froh zu Werke.