Verdammte Eifersucht – das wahre Ende von Schneewittchen

Von wegen „Und wenn sie nicht gestorben sind…“ – 200 Jahre nach dem ersten Erscheinen von »Grimms Hausmärchen« am 20. Dezember 1812 wird hiermit jetzt erstmals das wahre Ende von Schneewittchen bekannt gemacht:

Gott und der Teufel hatten mal wieder gewettet. Diesmal ging’s um die Frage, auf welchem moralischem Entwicklungsstand sich die Menschheit befindet. Zur Klärung hatten sich die beiden auf ein mit überragender Schönheit gesegnetes Kind geeinigt: Haare schwarz wie Ebenholz, Wangen rot wie das Leben selbst und die Haut weiß wie Schnee. Eine Königstochter reinen Herzens. Ihr Name ist bekannt – »Schneewittchen« – ihre Geschichte auch – jedenfalls weitestgehend. Und zwar in etwa so:

Als Schneewittchens Mutter stirbt, nimmt sich der Vater eine neue Frau, die dem Stiefkind schon bald vor Eifersucht nach dem Leben trachtet und einen Auftragsmörder auf den Hals hetzt. Doch der bringt es nicht übers Herz, das Mädchen zu töten und lässt Schneewittchen flüchten. Diese wächst im Wald zu einer schönen jungen Frau heran. Das bleibt jedoch der Stiefmutter nicht verborgen, denn die besitzt einen Zauberspiegel:
»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im Land?«, fragt sie ihn und dieser antwortet: »Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, doch Schneewittchen…!« Und so weiter.
Da nimmt die böse Königin die Sache selbst in die Hand: Ein Mordversuch mit einem Mieder scheitert jedoch genauso, wie der Anschlag mit einem vergifteten Kamm. Mit einem vergifteten Apfel scheint sie zunächst Erfolg zu haben. Doch der Zauberspiegel verrät ihr, dass ihre Stieftochter wieder überlebt hat: »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?«
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, aber Schneewittchen ist noch immer tausendmal schöner als Ihr.«
Für die junge Frau hat sich Blatt jedoch inzwischen gewendet: Aus dem Koma erwacht, hat sie ihren Traumprinzen kennen gelernt und wie es sich gehört geheiratet.

Das ist das offizielle Ende der Geschichte. Hier nun das Inoffizielle:

Nach dem gramvollen Tod der Stiefmutter kehrt Schneewittchen schweren Herzens ins väterliche Schloss zurück.
»Jetzt schau sie Dir an«, sagt Gott erleichtert zum Teufel, »Du hast sie unvorstellbar leiden lassen. Und trotzdem hat sie sich stets ihr reines Gemüt bewahrt, sich nie zu niederen Gefühlen und Taten hinreißen lassen.«
Doch der Teufel würdigt Gott keines Blickes. Irgendetwas fesselt seine Aufmerksamkeit. Er betrachtet Schneewittchen, wie sie sich neugierig einem verstaubten Wandspiegel nähert.
»Was ist das für ein seltsamer Spiegel?«, fragt sie ihre Zofe.
»Ein Spiegel Eurer Stiefmutter – soll verhext sein. Hat angeblich die Fähigkeit, die schönste Frau im Lande zu zeigen.«
Schneewittchen lacht ungläubig auf: »Und wie funktioniert er?«
»Man muss sich nur davor stellen und die magische Formel sprechen: ›Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im Land?‹!«
Die junge Frau tritt einen Schritt näher und betrachtet sich einen Moment lang etwas aufmerksamer als sonst: Hat der Kampf ums Überleben im Wald Spuren hinterlassen? Zeichnen sich da Sorgenfalten auf der Stirn ab? Erste graue zwischen schwarzen Haaren? Schatten unter den Augen?
Schneewittchen atmet tief durch. Nicht, dass sie an Zauberei glauben würde, aber versuchen kann man’s ja mal:
»Spieglein, Spieglein an der Wand…«
Noch bevor der Spiegel antwortet, huscht ein Lächeln über das Gesicht des Teufels – und Gott weiß, dass er wieder einmal verloren hat.